Sexualitäten

…freies Projekt

Rede von Harald Hemprich – zur Eröffnung der Ausstellung Sexualiäten
April bis 1. Mai 2022

Meine Damen und Herren,

die neue Ausstellung im KunstRAum ist mit den vorangehenden nicht vergleichbar. Weder im Thema noch in der Streitbarkeit ihrer Inhalte. Sie nennt sich SEXUALITÄTEN und weicht mit dem Plural auch von der herrschenden Bezeichnungsweise ab. Es geht um sehr Verschiedenes, möglicherweise auch um eine Neudefinition dessen, was wir unter SEXUALITÄT verstehen oder verstehen sollten.

Oliver Hurst ist von Beruf Fotograf und die Fotografie der Berufsfotografen ist seit jeher mit Arbeiten verbunden, die aus ihrer üblichen Tätigkeit herausfallen, einfach deshalb, weil die Fotografie ein universales Medium ist, heute mehr als je zuvor, und weil die Fotografen in der Regel kreative Leute sind.  Wie stände es um unsere Wahrnehmung ohne Fotografie, um unsere Vorstellungskraft, um unser Urteilsvermögen? Dieses universale Medium – nichts entzieht sich auf Dauer der fotografischen Abbildung – dieses Medium reizt und verlockt fortwährend zu privater Inszenierung, zu Beobachtung im öffentlichen Raum; oder auch – wie in diesem Fall – zu BEWUSSTER, KRITISCHER THEMENSTELLUNG, in einer Gesellschaft, die behauptet, über Sexualität alles zu wissen und mit Sexualität offen umgehen zu können.

Das FREIE FOTOGRAFISCHE PROJEKT, das sich mit dem Thema künstlerisch auseinander setzt, ist schnell beschrieben: Alle Personen, die Oliver Hurst in Innen- wie Außenräumen fotografiert hat, sind freiwillige Teilnehmer, kein einziges Bild verdankt sich einer Schlüsselloch-perspektive mit voyeuristischem Blick. Die Bilder sind – bis auf eins – subjektiv wie objektiv inszeniert, das heißt die Personen sind fotografiert und hier zu sehen, weil sie damit und mit der Veröffentlichung einverstanden waren. Um sich den Fotografierten gewissermaßen gleichzustellen, hat sich der Fotograf selbst porträtiert, man sieht ihn als nackten Mann mit Bildschirmkopf, in dem pornografische Filme laufen.
Dem Ganzen des Projekts liegt kein Konzept zugrunde, wohl aber eine Idee, die irgendwann geboren wurde – wir dürfen nicht vergessen, dass Oliver Hurst sich außer als Studio-Fotograf auch als Straßenfotograf versteht und dieser drückt dann und dort ab, wo die Wirklichkeit ihm eine besondere Situation anbietet – wie vor dem Schaufenster mit den zwei markanten Schaufensterpuppen, an dem zwei Frauen und ein Hund vorbeilaufen. Dieses Foto scheint zu dieser Ausstellung überhaupt nicht zu passen. Und gehört doch dazu. Auch mit der Intention des Mottos: Am eigenen Selbstverständnis zweifeln. Der Zweifel – wie viel fängt damit an?
Die Ausstellung umfasst EINZEL- UND PAARDARSTELLUNGEN. Wenn eine Person uns einzeln gegenübertritt, vermuten wir etwas im leiblichen Sinne Nicht-Dialogisches, die Botschaft, die davon ausgeht, scheint selbstbestimmt, selbstbewusst – und ist in einem anderen Sinne doch dialogisch, nämlich dialogisch mit sich selbst, sich selbst suchend, sich selbst darstellend, seine Sexualität zum Beispiel auch in einem technischen Medium suchend.

Man markiert seine Position, seinen Blick, seine Bedrohung, seine Befreiung, man sucht eine Situation, in der eine Erfahrung am besten zum Ausdruck kommt

Am deutlichsten wird dies auf der vierteiligen Fotografie: männlich, schon älter, nackt. Unserer vorherrschenden Gewohnheit scheinen diese Abbildungen zu widersprechen: Warum nicht angekleidet mit leger offenem Hemd und über die Schulter geworfenem Sacco. Ganz einfach – es wäre etwas ganz anderes! Das eine rückt in die Nähe der Konvention (und warum fotografiert man das dann?) das andere ist ein Wagnis, ein Risiko.  Das Risiko liegt nicht etwa in spektakulärer Enthüllung, vielmehr in Wahrheit und Bekenntnis. Eine ältere Person, die ihre Nacktheit zu zeigen wagt und sich dadurch ihrer selbst vergewissert. Angstlos. Als Akt der Befreiung.
Ähnlich auch die junge Frau im schwarzen Top. Ihre Parolen, demonstrativ auf ihrer Haut, sind auf Abwehr gestellt, auf Abwehr gesellschaftlicher Ächtungsversuche: Stop teaching how to dress women! Nicht, als ob der begehrliche Blick auf die Haut der Frau etwas Verbotenes wäre. Die daraus abgeleitete Kleidungsmoral (!) – darin liegt die Verfehlung. Für mich eines der stärksten Bilder femininen Selbstbewusstseins. Es enthält Kämpferisches und braucht das wohl auch noch lange.
Daneben nochmals zwei einzelne Frauen, die eine mit sehr starkem, entschlossenem Blick – im Unterrock, sich ihrer Körperlichkeit, ihren Reizen sehr bewusst und sich dazu auch bekennend. Die andere mit angstvollem Blick vor bedrohlicher Abschirmung, ja Gefangenschaft. Man spürt, wie die Bedrohung ihr alle Lust, alles Leben nimmt. Das Bild ist aus einer Theaterinszenierung – die Person, um die es hier geht, erschießt sich. Weil ihr das sexuelle Leben nicht erlaubt wird. Der Tod der Sexualität – das ist die Grabesruhe halbierter oder überhaupt schon vernichteter Persönlichkeit.
Zu ergänzen wäre noch das Doppelporträt einer Frau, für mich eine literarische Figur, die sich, bildlich gesprochen, auf die Socken macht, allein lebend, allein für sich verantwortlich, unternehmungslustig, in verschiedene Rollen schlüpfend, mit starkem Innenleben – mal gestylt für große Auftritte, mal kuschlig weich und lockend.
Den Tag mit einem Glas Wodka beginnen – eine Sequenz  aus sechs Fotografien. Heimlich in einem Waldstück, im Verborgenen, Nicht-Öffentlichen. Dennoch ist diese Form der Sexualität ja da, man kann sie nicht wegleugnen, sie existiert, ganz gleich, ob man dazu „Schmutz“, „Ausbeutung“, „Verbrechen“ sagt, genauso könnte man sagen (von Frau aus) mit Lust am Schmutz – dann ist es kein Schmutz mehr, mit Lust an der Ausbeutung – dann ist es keine Ausbeutung mehr.
Allerdings findet hier eine Grenzziehung bzw. eine Grenzüberschreitung statt. Die Grenzziehung besteht zwischen erlaubt und nicht erlaubt, gesittet und unsittlich, zwischen Regel und Überschreitung dieser Regel. Interessant, dass hier Szenen nachgestellt sind, die am ehesten eine gängige Vorstellung bedienen: der schnelle Kontakt zu der Person, die ihre Sexualität anbietet, und der Andere, der sich ihrer bedient, gegen Geld natürlich, ein Tausch, der nur eine Spezialform der Ware-Geld-Beziehung darstellt.  Der reine unpersönliche Sex? Oder liegen wir in unseren Vermutungen ganz falsch?  Ist es nicht auch – ich provoziere Sie bewusst – eine Spielart der Freiheit?
Ganz anders das fünfteilige Bild: das Gesicht als erstes und als hervorgehobene Fotografie. Der Blick kommt vom Herzen, ist unversteckt, offen, von großer Freundlichkeit. Das Obszöne – was ist das? – bleibt hier ganz außerhalb, SINNLICHKEIT UND SPIRITUALITÄT gehen eine Verbindung ein. Die Idee dieser Verbindung kommt aus Indien. Sexualität nicht als primär eruptive Angelegenheit, als Reiz durch spontane oder angebahnte Kommunikation. Oder als gekaufte Verführung. Sondern als zelebrierte Feier, als komplexes Erlebnis, in dem Reiz, Gefühl, Körper und Seele beteiligt und zu einer Einheit verschmolzen sind.
Man braucht das im Einzelnen auf den Bildern nicht weiter zu verfolgen, der Fotograf tut es, scheinbar ohne Diskretion. In Wirklichkeit mit großem Respekt vor einer Zweisamkeit, die scheinbar nur Bekanntes zeigt, in – aber auf Magie und Geheimnis deutet, die man in ihrer Substanz nicht mehr fotografieren, sondern nur erleben kann.

Zum Schluss zu den vermeintlich gefährlichsten Bildern. Sie widersprechen am ehesten unseren Vorstellungen von Freiheit, Ebenbürtigkeit, von Würde und Gewaltlosigkeit. Eine insgesamt sechsteilige Arbeit, in drei Schritten: als Anbahnung von sexueller Kommunikation, als Konfrontation, schließlich als positiver Zusammenschluss. Ein Experiment, von beiden Beteiligten gewollt und zelebriert, vielleicht gerade wegen des Klischees von Unterordnung und Zwang. Ein vereinbarte, mit Halsband, Leine und Handfessel inszenierte Versuchsanordnung, ein Behütet- und Aufgehoben-sein ganz eigener Art.
Vielleicht überspannt. Aber warum sollte das menschliche Spiel, Verkleidungs- und Genussbedürfnis nicht überspannt sein dürfen? Ist man für die eigene Ereignislosigkeit nicht selbst verantwortlich? Und entscheidet nicht am Ende das Resultat, an das man sich gerne erinnert? Und ist die Spannung, die wir dem Leben abgewinnen, nicht gerade darin begründet, dass wir sie zu zweit oder gemeinsam erzeugen, als individuelles Abenteuer, als Rollenspiel, das wir suchen – und ausschöpfen.

Oliver Hurst sei Dank! Er hat sich auf ein Gebiet vorgewagt, das nicht alltäglich ist. Ich würde seine fotografische Position als eine literarische Position beschreiben. Ähnlich wie gute Literatur spielt seine Kunst mit der Entrüstung. Und dadurch mit einem Paradox: einerseits wird Erotik und Sexualität gering geschätzt, aus einer Abwehr heraus, weil man am aller-wenigsten schätzen kann, was man zu wenig versteht. Andererseits sind Sexualität und Erotik Sehnsuchts-Pole. Diese zu erforschen ist Aufgabe nicht nur der Kunst, aber der Kunst ganz besonders.
So kamen wir und sahen uns – im Stillen – entrüstet. Und gehen als Befreite, vielleicht als Beglückte. Und hoffentlich nicht entzaubert.

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